„Die Würde des Menschen ist unantastbar“
Schulklassenführungen in der Wanderausstellung „NS-Psychiatrie in der Pfalz“ im Abgeordnetenhaus des rheinland-pfälzischen Landtags
Wie konnte das passieren? Wieso tun Menschen so etwas? Dies waren wohl die schwierigsten Fragen, mit denen ich während meiner Führungen durch die Wanderausstellung NS-Psychiatrie in der Pfalz konfrontiert wurde.
Vom 20. Januar bis zum 26. Februar 2016 habe ich Schulklassen aus ganz Mainz durch die Wanderausstellung begleitet und offen sowie ausführlich über die Thematik diskutiert.
Nach der Begrüßung haben wir gemeinsam einen chronologischen Rundgang durch die Ausstellung gemacht. Hier habe ich einen groben Überblick von den Anfängen der Psychiatrien über die NS-Psychiatrie bis hin zur Zeit nach dem Krieg und der Aufklärung der Verbrechen gegeben. Die Reaktionen während der Führung fielen teilweise sehr heftig aus. Viele Schülerinnen und Schüler waren schockiert und fassungslos. Einige schüttelten traurig den Kopf, andere zeigten ihre Wut über das, was sie hörten. Ich habe immer wieder versucht, die Klassen mit Fragen einzubeziehen. Was glaubt ihr, wieso hat man in den 20er Jahren die Arbeitstherapie angewendet? Könnt ihr euch vorstellen, was mit dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ gemeint ist? Wieso nannten die Nationalsozialisten die Krankenmorde Euthanasie? Wieso wurden einige Patienten in den Tötungsanstalten vor dem Vergasen markiert? Was denkt ihr, wurden die Täter für ihre Taten bestraft? Viele Schülerinnen und Schüler haben versucht auf die Fragen einzugehen. Es wurden gute Antworten gegeben und einzelne Punkte hinterfragt. Dennoch fiel mir auf, dass bei vielen große Unwissenheit über das Thema NS-Psychiatrie herrschte, was auch teilweise die heftigsten Reaktionen auslöste. Von Sterilisationen oder der Aktion T4 wussten nur wenige etwas. Einige wussten überhaupt nichts davon, dass geistig und körperlich behinderte Menschen während des Nazi-Regimes verfolgt, gefoltert und getötet wurden.
„Dass die Nazis Juden umgebracht haben, war mir klar, aber dass auch solche Menschen betroffen waren, war mir nicht bewusst“, verriet mir ein Junge. Das Interesse war trotzdem sehr hoch. Zusammen haben die Klassen und ich erörtert, mit welcher abartigen Brutalität die Nationalsozialisten vorgingen, welche menschenverachtende Moral und Ansicht sie hatten und mit welch widerwärtigem Kalkül sie gehandelt haben. “Grenzenlose Unmenschlichkeit“ beschrieb es ein Mädchen sehr treffend. Schließlich löste es auch Entsetzen aus, dass die meisten Täter der Verbrechen ohne jede Strafe davongekommen sind. Auch die Tatsache, dass die Aufklärungsarbeit zum Beispiel in Klingenmünster erst so spät begonnen hatte, sorgte für Unverständnis.
Nach dem Rundgang konnten sich die Klassen, so lange sie wollten, die Ausstellung genauer ansehen. Dabei durfte jeder die Schwerpunkte, die ihn am meisten interessierten, selbst setzen. Dazu habe ich einen Fragebogen ausgeteilt, den ich selbst entwickelt habe. Die Schülerinnen und Schüler sollten die Fragen mit Hilfe der Ausstellung beantworten. Der Fragebogen diente vor allem dazu, die Eindrücke und Informationen der Ausstellung zu vertiefen und einen Einstieg in eine Diskussionsrunde zu bieten.
Die Fragen des Fragebogens lauteten:
1. Sieh dir die Fotos und Briefe auf den Tafeln an. Welches berührt dich am meisten und warum?
2. Welche Menschen und Menschengruppen wurden in der Heil-und Pflegeanstalt Klingenmünster untergebracht?
3. Wieso haben die nationalsozialistischen Behörden beschlossen, Menschen aus Klingenmünster zu deportieren und zu ermorden?
4. Schildere die Lebenssituation von Otto W. Wie hat er sich während seiner Zeit in der Heil-und Pflegeanstalt gefühlt?
5. Die letzten Euthanasiemorde sind 75 Jahre her. Was denkst du, warum zeigt der Landtag eine Wanderausstellung über diese Menschen und deren Schicksale?
Die Antworten auf die erste Frage waren sehr vielfältig. Es war auch für mich spannend zu sehen, welche Bilder die Jugendlichen am meisten berührten. Die am häufigsten genannten Bilder waren diese, auf denen abgemagerte Kinder ohne Kleidung in den Heil-und Pflegeanstalten zu sehen waren. Sehr wichtig waren mir auch noch die beiden letzten Fragen. Bei der vorletzten Frage erläuterten die Gruppen ein Einzelschicksal.
Ich persönlich fand es sehr gut, dass in der Ausstellung viele Einzelschicksale dargestellt wurden. Meiner Meinung nach helfen diese Einzelschicksale dabei zu verstehen, wie brutal und abnormal die Verbrechen der Nationalsozialisten waren, weil die Darstellungen einfach so persönlich und detailliert sind. Dies berührt mehr als nur ein Vortrag. Deshalb habe ich gebeten, sich alle Einzelschicksaale genauer zu betrachten. Es gibt aber noch einen viel wichtigeren Grund, weshalb diese Einzelschicksale so wichtig sind. Sie geben eines zu erkennen:
Jeder Mensch, jede Geschichte ist anders. Jedes Leben, jedes Individuum ist vielfältig und hat seine Stärken und Schwächen. Man kann und muss den Menschen, die eine Krankheit haben, helfen. Dass manche Menschen solche Schwächen haben, hat viele verschiedene Gründe. Es hängt mit ihrer Vergangenheit und ihrem Schicksal zusammen. Trotzdem sind es Menschen mit Gefühlen und Emotionen, genau wie jeder andere Mensch auch. Sie sind sicher keine „schlechteren“ oder „unwerten“ Menschen. Wenn man all diese Menschen kategorisiert und sie als schlechter als andere Menschen ansieht, dann ist das Rassismus. Und was daraus werden kann, Massenmorde und unmenschliches Elend, hat die Nazidiktatur gezeigt. Mir war es ganz wichtig, genau diesen Aspekt in dem Gespräch mit den Klassen klar zu machen. Daran knüpft auch die letzte Frage an:
Die letzten Euthanasiemorde sind 75 Jahre her. Was denkst du, warum zeigt der Landtag eine Wanderausstellung über diese Menschen und deren Schicksale?
Auch hier kamen viele gute Antworten. Zum Beispiel um daran zu erinnern, dass diese Verbrechen sich niemals wiederholen dürfen. Eine Schülerin brachte es genau auf den Punkt: „Um zu zeigen, wie wichtig die Würde jedes einzelnen Menschen ist“. Genau darum geht es nämlich. Wir leben heute in einem Land und in einer Gesellschaft, in der in erster Linie das Grundgesetz die Regeln für unser Zusammenleben bestimmt. Und genau im ersten Artikel dieses Grundgesetzes steht: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Dies ist die größte Errungenschaft der neuen deutschen Geschichte. Jeden Menschen mit Würde zu betrachten, jeden Menschen als Individuum mit gleichen Rechten zu sehen und nicht in bestimmte Gruppen und Werte einzuteilen. Was passiert, wenn wir dies nicht tun, zeigt uns die Ausstellung. In der heutigen Zeit, in der leider in Europa und damit auch in Deutschland dieses menschenunwürdige Gedankengut der NS-Zeit wieder stärker vertreten und gelebt wird, ist es Aufgabe der Demokratie und damit auch des Landtags, den Menschen zu zeigen, wie wichtig die Errungenschaften wie Freiheit, Demokratie und Grundgesetz für uns alle sind. Dazu gehört auch Bildung im Kampf gegen Rassismus. Mit diesem Abschluss beendete ich dann die Führungen.
Die Wanderausstellung „NS-Psychiatrie in der Pfalz“ hat dem Landtag die Möglichkeit gegeben, Bürgerinnen und Bürger und vor allem auch junge Leute durch die Führungen zu informieren. Der Landtag Rheinland-Pfalz ist dem Pfalzklinikum sehr dankbar, dass diese Wanderausstellung bei uns im Abgeordnetenhaus gastieren durfte. Außerdem bin ich persönlich sehr glücklich darüber, zu sehen, wie viele junge Menschen an diesem Thema interessiert waren und sich in Gespräche eingebracht haben. Es ist ein gutes Gefühl zu spüren, dass den jungen Menschen die gesamte Thematik sehr wichtig ist und dass sie durch die Ausstellung noch etwas lernen konnten. In manchen Gruppen haben sich sogar spontan sehr interessante und aktuelle Diskussionen in Bezug auf dem Umgang mit Leben und mit dem Leben von „Schwächeren“ ergeben. So habe ich zum Beispiel mit einer Klasse, die eine Ausbildung zum Altenpfleger macht, über die Sterbehilfe diskutiert oder mit einer Mädchenklasse über das Thema Abtreibung.
Insgesamt waren es tolle Erfahrungen, die ich während meiner Führungen sammeln durfte. Die Arbeit mit den jungen Menschen hat mir sehr viel Spaß gemacht und mir sogar bei meiner Berufswahl weitergeholfen.
Till Rosinus
FSJler im Landtag Rheinland-Pfalz